Ansprache von Bundespräsident Alain Berset zum 100-jährigen Bestehen der Suva – es gilt das gesprochene Wort.

Die SUVA – das ist die Schweiz im Kleinen. Eine stabile Institution, die das höchst instabile 20. Jahrhundert überstanden hat. Die SUVA steht für unser Land in all seinen Facetten – politisch, regional, kulturell. Eine bemerkenswert stabile Institution eines bemerkenswert stabilen Landes.

Aber der historische Erfolg der SUVA – und der Schweiz – basiert nicht darauf, dass wir ständig nett miteinander umgehen. Der soziale Frieden in unserem Land, zu dem die SUVA entscheidend beigetragen hat, beruht vielmehr auf harten Auseinandersetzungen.

Man denke nur an die zahlreichen Debatten, die die Anfänge der SUVA geprägt haben. Zu heftigen Diskussionen führte etwa die Zusammensetzung des ersten Verwaltungsrates. Die unterschiedlichen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitsgebern, von Bund und Versicherten – alle mussten angemessen berücksichtigt werden. Der Gewerkschaftsbund beklagte sich, mit den Arbeitern werde, ich zitiere: „eine elende Komödie“ gespielt. Auf der Arbeitgeberseite war das Gewerbe davon überzeugt, die Industrie habe zu viel Einfluss. Kaum hatte sich der Verwaltungsrat konstituiert, brach der Machtkampf um die föderalistisch korrekte Verteilung der Agenturen los.

Aber damit nicht genug: Auch die Frage der Namensgebung der Agenturen brachte den Verwaltungsrat an den Rand eines kollektiven Nervenzusammenbruches. Folgende Namen wurden an der Verwaltungsratssitzung vom 27. Mai 1914 diskutiert:

  • „Hauptagentur“ statt „Generalagentur“,
  • „Grossagentur“ statt „Hauptagentur“,
  • „Kreisdirektion“ statt „Generalagentur“
  • „Oberagentur“ statt „Hauptagentur“
  • „Unteragentur“ statt „Agentur“

Man entschied sich dann schliesslich für die Bezeichnungen „Kreisagentur“, „Hauptagentur“ und „Agentur“. Seit 1990 heissen übrigens alle Einrichtungen schlicht „Agenturen“.

Die Selbstverständlichkeit, mit der unser Land funktioniert, mit der die SUVA seit 100 Jahren funktioniert: Sie ist alles andere als selbstverständlich. Unsere Stabilität verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass wir ständig an ihr arbeiten. Dass wir miteinander streiten, uns aber am Schluss zusammenraufen. Im Namen des Gemeinwohls.

Ein Jubiläum wie dieses gibt uns die Gelegenheit, uns zu vergegenwärtigen worauf unser Arbeitsfrieden beruht, um den uns andere Länder so beneiden. Nämlich auf der Fähigkeit der Arbeitgebenden und der Arbeitnehmenden, sich an den gleichen Tisch zu setzen und Lösungen zu finden, die niemanden euphorisieren, aber mit denen alle gut leben können.

Das ist unser helvetisches Genie der mittleren Unzufriedenheit. Und es führt zum Erfolg. Das beste Beispiel dafür ist die SUVA. Sie verkörpert seit 100 Jahren gelebte Sozialpartnerschaft. Diese gemeinsame Führung ist einzigartig. Sie zeigt, dass der Ausgleich der Interessen in einer so wichtigen Organisation funktioniert und tragfähige Lösungen ermöglicht.

Einzigartig ist auch das integrierte Modell der SUVA. Sie kümmert um die effiziente Behandlung genauso wie um die Prävention und die Wiedereingliederung. Die sinkenden Fallzahlen und die finanzielle Stabilität bestätigen den Erfolg dieses Modells und machen es zum Vorbild für andere Sozialversicherungen.

Die SUVA ermöglicht es heute zwei Millionen arbeitenden Menschen in unserem Land, jeden Morgen aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, ohne sich allzu sehr um die wirtschaftlichen Folgen eines möglichen Arbeitsunfalls zu sorgen.

Stellen wir uns die Erleichterung einer Familie vor, die vor 100 Jahren plötzlich nicht mehr den totalen sozialen Absturz befürchten musste wegen eines Arbeitsunfalles, dank dieser ersten Sozialversicherung unseres Landes.

Sicherheit und Berechenbarkeit – für Arbeitnehmende ebenso wie für die Unternehmen – waren und sind entscheidende Voraussetzungen für unseren wirtschaftlichen Erfolg. Auch wenn die Zahl der Freizeitunfälle heute weit über jener der Arbeitsunfälle liegt.

Die Geschichte der SUVA zeigt, dass die Arbeitswelt durchaus einer win-win-Logik folgt – und nicht einer Logik des Gegeneinanders. Was gut ist für die Schweizer Gesellschaft, ist auch gut für die Schweizer Wirtschaft. Wer hingegen die Schweiz nur als Standort begreift, wird diesen Standort unweigerlich schwächen.

In den letzten Jahrzehnten wurden soziale Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit manchmal gegeneinander ausgespielt. Zu Unrecht: Soziale Sicherheit gibt uns die Freiheit, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren. Wirtschaftliche Sicherheit gibt uns das Selbstvertrauen, das Beste aus uns herauszuholen. Wer unter prekären Bedingungen und ohne Sicherheitsnetz arbeitet, ist nicht mutig, ideenreich und kreativ – sondern verständlicherweise verängstigt.

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